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Der Selbsterschaffene

2023

Deyan Kyuranov, PhD

Der Anti-Ausnutzer

Im Jahr 1971 traf der Bulgare Vasil Ivanov aus seiner Heimatstadt Sofia in Paris ein, das er nur aus Erzählungen und Bildern kannte. Doch für die Künstler – und vor allem für Künstler, die von jenseits des Eisernen Vorhangs kamen – bedeutete Paris in erster Linie Kunst. Ivanov erwartete seine erste persönliche Begegnung mit der Weltkunst – mit der von gestern und der von heute; doch auch seine erste Begegnung mit dem Westen, wo Kunst anders gesehen wird, nicht wie in der „Volksrepublik“ Bulgarien – anders in ästhetischer, aber auch in kommerzieller Hinsicht.

Finanziell gesehen, war diese Begegnung für unseren Künstler nicht gerade erfolgreich. Es heißt, dass Picasso Gefallen an seiner Arbeit gefunden und eines seiner Bilder gekauft habe. Aber es ist ziemlich sicher, dass es Ivanov nicht gelang, seine Kunst zu verkaufen und ein anerkannter und wohlhabender internationaler Künstler zu werden. Die Weltkunst sah er natürlich in Galerien und Museen; sie beeinflusste ihn jedoch nicht. Sein charakteristischer Stil war schon endgültig ausgeprägt.

Der gesunde Menschenverstand der bulgarischen Künstlerkreise (und nicht nur der bulgarischen, und nicht nur der der Künstler) würde diesen „Ausflug“ von Vasil Ivanov als die größte verpasste Chance in seinem Leben bewerten. Allerdings steht dieser Mann sehr weit außerhalb des allgemein Üblichen und er sah das Leben nicht als eine Kette von Möglichkeiten, die man ausnutzen muss. Er war kein Ausnutzer – und das in einem solchen Ausmaß, dass man ihn wohl eher als Anti-Ausnutzer bezeichnen sollte. Als Künstler und Mensch erschuf er sich selbst in umgekehrter Art und Weise, indem er die Chancen, die das Leben bot, nicht nutzte:

  • Er hatte das Talent, den Verstand und die Zeit vor der kommunistischen Diktatur (1944 war Vasil Ivanov fünfunddreißig Jahre alt), die es ihm ermöglicht hätten, die gewinnbringende Kunst Europas und Amerikas erfolgreich nachzuahmen, sowohl die aktuelle Mode als auch die Avantgarde. Erinnern wir uns daran, dass es vor der Machtübernahme der Kommunisten in Bulgarien Provinzialismus gab, aber keinen Informationsvorhang. Doch er wollte nicht zu einem Nachahmungsprodukt werden, das Nachahmungsprodukte produziert!
  • Unter der „Volksmacht“ hätte Vasil Ivanov ein führender „sozialistischer Realist“ werden können, d.h. wiederum ein Nachahmer der nunmehr formalisierten sowjetischen Kunst. Zu diesem Zweck hätte er sich auf seine Biografie stützen können: Sein Werk war bis dahin eindeutig realistisch, und seine Ansichten waren bis dahin amorph linksgerichtet. Er tat aber das Gegenteil: Er begann, sich unbeirrt in eine nicht realistische Richtung zu entwickeln und ignorierte die Vorgaben des Regimes. Vasil Ivanov war kein Dissident, er stellte sich nicht direkt gegen die Diktatur, weder in seinem Leben noch in seiner Kunst: Er entfernte sich einfach von der Bildfläche. Im Gegenzug entfernte ihn das Regime vom staatlichen Futtertrog. Er wiederum – gab dem Regime auch nichts. Nicht, dass er als Außenseiter im Elend leben wollte – doch seine Kunst und seine Moral zu kompromittieren, war er noch weniger bereit.

Ich wage auch die Behauptung, dass er ein sehr attraktiver Mann war, wenn man nach den Fotos und den Aussagen der Leute urteilt, die ihn kannten. Schroffe, regelmäßige Gesichtszüge, der muskulöse Körper eines jungen Athleten, ungeachtet des Alters (er praktizierte ständig Yoga); mit der Aura eines Künstlers, der aber auch andere seltene Fähigkeiten besaß (er war zum Beispiel Geiger und Handlesekünstler). Die Begegnungen mit ihm waren sehr interessant! Er hatte zweifellos auch viele Gelegenheiten für erotische Beziehungen. Doch selbst in unserer klatschsüchtigen Gesellschaft heißt es, dass für ihn nach seiner Hochzeit fünfundzwanzig Jahre lang nur seine Frau existierte.

Ist diese Nicht-Ausnutzung von Gelegenheiten nicht übertrieben? Nein. Nichts ist „übertrieben“ für Vasil Ivanov. Er ist ein Mann der überschrittenen Grenzen.

 

Erklärungen für einen Karrieremisserfolg

Vasil Ivanov misslang der Erfolg in der Welt und in seinem Lande letztlich, weil er seine Kunst moralisch anging. Er wollte, dass sein Werk Probleme der normalen, d.h. freien Entwicklung der bulgarischen Bildsprache mit angemessenen, d.h. innovativen Mitteln löst. Aber nach der Machtübernahme der Kommunisten war in Bulgarien nur noch die unfreie, d.h. nicht-normale „Entwicklung“ erlaubt; zur gleichen Zeit, in den sechziger und siebziger Jahren, stellte sich die Weltkunst frei ganz anderen Problemen. Pablo Picasso hätte vielleicht die Kunst von Vasil Ivanov verstanden und sein Talent bemerkt – aber er hätte Ivanov nicht folgen wollen. Nicht weil dieses Gebiet für ihn kein Neuland war – sondern weil es ihn aus vielen Gründen nicht interessierte. Er hätte auch verstehen können, warum Ivanov ihm in seinen künstlerischen Suchen nicht folgen würde, da er die Autonomie eines jeden wahren Künstlers respektierte.

Doch was sind die von Ivanov vorgeschlagenen Neuerungen, und warum sind sie so unvereinbar mit den Vorstellungen der machthabenden Apparatschiks von guter Kunst? In Ivanovs Leben gibt es ein Ereignis, das den Schlüssel zur Antwort auf diese Frage darstellt.

Im Jahr 1964 genehmigten die „zuständigen“ Behörden, in diesem Fall der Verband der bulgarischen Künstler und die Kulturabteilung des Zentralkomitees der Bulgarischen kommunistischen Partei, Ivanov eine Einzelausstellung in einem ziemlich guten Saal im Zentrum der Hauptstadt Sofia. Die Ausstellung wurde eingerichtet und nach einer leichten Zensur genehmigt, die Plakate wurden ausgehängt und die Einladungen verschickt (alles auf Kosten des Künstlers, was für Ivanov eine enorme Ausgabe bedeutete) – als dann zwei oder drei Stunden vor der Eröffnung irgendwelche Leute kamen und die Tür des Saals verschlossen: Die Ausstellung sei abgesagt. “Warum?“, fragte Ivanov. “Weil das die Entscheidung von oben ist“, sagten sie ihm.

Nicht zum ersten Mal mussten Künstler „Schläge von oben“ einstecken, vor allem ist in Bulgarien die Abrechnung mit Alexander Zhendov gut in Erinnerung. Zhendov war aber ein Kommunist, der es wagte, mit dem damaligen Parteichef Chervenkov darüber zu streiten, ob Künstler (Kommunisten) oder Apparatschiks (andere Kommunisten) die Macht über die Kunst haben sollten. Es handelte sich um eine offene politische Konfrontation, das Jahr 1950 lag noch in der Stalinzeit, und Zhendov warf die „Machtfrage“ auf… Er hatte Glück, dass man ihm keinen Schauprozess mit Justizmord anhängte! Seitdem war die gängige Praxis, um zu überleben: „Wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt, tut man öffentlich Buße“; und wenn man ein Held sein will, tut man nicht Buße und erträgt stillschweigend die Konsequenzen. Es hieß, dass Vasil Ivanov kein Mann war, der „über Politik“ streitet. Aber wenn die Politik für die Kunst, für die er lebte, zur Gefahr wurde, leistete er Widerstand. Offen, wie ein Ritter, mit geöffnetem Visier und sogar ohne jegliche Rüstung – warf er einen trotzigen Fehdehandschuh in die Fratzen der herrschenden Sancho Panzas.  Er schrieb einen Brief, in dem er sich die Freiheit nahm, sie nach dem Warum zu fragen. Er forderte Rechenschaft.

Sie antworteten ihm natürlich nicht. Er schrieb erneut – diesmal persönlich an den Diktator Todor Zhivkov. Dabei erlaubte er sich auch, Bedingungen zu stellen: dass, wenn sie die Ausstellung trotzdem nicht eröffnen, sie nur von „Experten“ – also von den Machthabenden – gesehen werden soll, dass er aber auch selbst Experten einlädt, dass es eine Diskussion geben soll, in der ihm erklärt werden soll, warum seine Kunst nicht gut sei.  Wieder antwortete man ihm nicht, wieder schrieb er an Zhivkov und die anderen Behörden, unnachahmlich selbstbewusst. Zudem sind seine Briefe in hervorragendem Bulgarisch geschrieben – kurz, klar, scharf, sogar ironisch gegenüber den Adressaten.

Monate vergingen – und nichts passierte, weder wurde die Ausstellung genehmigt noch wurde der Aufmüpfige bestraft. Die Behörden hatten keine Schablonenreaktion für einen solchen Fall, weshalb wohl die Vertreter der härteren und der weicheren Linie aneinandergeraten sind (und eine solche Linie gab es schon, die politische Zeit in Bulgarien war immer noch im antistalinistischen Schwung). Aber als er zum Kampf antrat, zählte Ivanov nicht darauf: Er stellte sich gegen eine anonyme und unerklärte Entscheidung des Regimes als Ganzes, als einen undurchsichtigen Monolithen, der auf ihn zu stürzen drohte.  Die Niederlage galt als fast sicher und der Erfolg als fast unmöglich. Doch das Wunder geschah – er durfte seine Ausstellung machen, wenn auch eine verkleinerte, denn es wurde ihm bewusst ein enger Raum zugewiesen – das Foyer des Satire-Theaters. Doch angesichts des Sieges der Kunst über die Partei waren das nur Details!

Wiederholen wir jedoch den Kern von Vasils Frage: Warum erwiesen sich diese Leute, die machthabenden Kommunisten, die per definitionem progressiv sein sollten, in der Kunst (und natürlich nicht nur dort) als dermaßen reaktionär. Es wäre zu simpel, alles mit sowjetischer Einmischung und Nachahmung, Angst oder Karrierekalkül zu erklären. Wenn wir dies tun, werden wir die Frage im sowjetischen Kontext wiederholen müssen: Warum setzen sich die sowjetischen Kommunisten für den Realismus ein? Und die Antwort wird ähnlich ausfallen, weil sich die Systeme und Gesellschaften ähneln. Die überwiegende Mehrheit der Parteiführer und viele wirklich begabte Künstler (z. B. Stoyan Sotirov) glaubten aufrichtig, dass nur der Realismus gute Kunst sei. Die wichtigste Überlegung, die nicht immer erkannt oder geäußert wurde, war, dass „das Volk“ den Realismus versteht, den Nicht-Realismus aber nicht. Aber warum?

Die einfachste – und zutreffendste – Erklärung wäre: „Weil die Kultur des Volkes vormodern ist“. Und dieselben Kommunisten, die die Produktion gewaltsam modernisierten, stoppten ebenso gewaltsam modernisierende Strömungen in der Kunst (von der Politik ganz zu schweigen). Denn Modernisierung bedeutet in der Produktion Disziplin und in der Kunst und Politik – Freiheit. Damit ist klar, warum die „volkstümliche“ Vorstellung von bildender Kunst darin besteht, „originalgetreu auszusehen“, und dass derjenige, der ohne Kamera besser fotografiert, der größere Meister ist.

Und nicht nur „das Volk“ – und nicht erst seit der Machtübernahme der Kommunisten. Als der bulgarische Staat ein halbes Jahrhundert nach der Verbreitung der Daguerreotypie die Staatliche Zeichenschule gründete, der erste Vorläufer einer bulgarischen Akademie der bildenden Künste, wollte dieser Staat eine Akademie „wie die anderen in der Welt“. Und in den Hauptstädten der Welt gingen die Akademien im Allgemeinen immer noch wie gewohnt ihren Weg, als gäbe es weder die Fotografie noch die von ihr ausgelöste Revolution der bildenden Künste. Aus diesem Grund wurde auch Vasil Ivanov in Sofia in dem vorherrschenden akademischen Realismus ausgebildet. Zwar gab es in der Tat außerhalb der Akademien kreative Freiheit – doch die bulgarischen Künstler weigerten sich, sie zu nutzen!

Sehen wir uns zunächst die allgemeinen Gründe für diese Weigerung an – die konkreteren folgen weiter unten. Die allgemeinen Gründe liegen auf der Hand: im Vergleich zu anderen Gesellschaften in Europa zählte die bulgarische Gesellschaft weniger Menschen, die wiederum weniger Geld zählten; außerdem fühlte sie sich in der modernen Kultur eher unwohl. Es braucht ein gewisses Maß an kulturellem Selbstbewusstsein, um eine noch nicht gängige Sicht der Welt tolerant zu akzeptieren. Ein solcher Blick ist der nicht-fotografisch-realistische Blick – und den haben westeuropäische Künstler spätestens seit Turner allmählich erfunden und auch ihre Gesellschaften entsprechend zu schulen begonnen. In Bulgarien war dies nach der Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht geschehen – und es konnte auch nach der kommunistischen Machtübernahme nicht geschehen, weil die neue Gesellschaft nicht nur völlig ideologisiert, sondern im Allgemeinen auch weniger kultiviert war als die vorherige.

Hier stellt sich die berechtigte Frage: Warum galt der Impressionismus in der Sowjetunion – und damit auch in Bulgarien – als etwas Gutes? War er nicht der erste, der dem Realismus einen schweren Schlag versetzte? Und man hatte ihn zu einem guten, fortschrittlichen Stil erklärt. Fortschrittlich – aber nur insofern, als er tot war. Hätte ein zeitgenössischer Künstler versucht, in diesem Stil zu malen, wäre er sofort von der ideologischen Zensur niedergemacht worden. Und der Vorwurf wäre „Formalismus“ gewesen, so wie man jede vermeintliche Abweichung vom „einzig richtigen sozialistischen Realismus“ benannte. Darüber hinaus war die Akzeptanz des Impressionismus eine hervorragende Grundlage für die Kritik an der gesamten zeitgenössischen Weltkunst: Seht her, wir sind objektiv, wir kritisieren nicht etwas, nur weil es kapitalistisch ist – nur den Verfall, der im Westen nach den Impressionisten einsetzte. Im Osten hingegen wurde der Impressionismus als eine Form des „kritischen Realismus“ dargestellt  – und von diesem zum „sozialistischen Realismus“ weiterentwickelt. Es wurden auch Ausnahmen zugelassen, die mit politischen Gründen „entschuldigt“ wurden: der oben erwähnte Picasso war neben seinen „Kritzeleien“ der Autor der im Volk allgemein bekannten und geliebten „Friedenstaube“ (die UdSSR kämpfte ja für den Frieden!) und er galt als „großer Freund der Sowjetunion“…

Wir haben bis jetzt markiert, was Vasil Ivanov nicht getan hat. Sehen wir uns nun an, was er getan hat, und suchen wir nach den Gründen dafür.

 

Der Selbsterschaffene Künstler

Die künstlerische Freiheit entdeckte Vasil Ivanov selbst, die künstlerische Unfreiheit wurde ihm von der Akademie zuteil. Er schloss sein Studium 1939 ab, doch auch ohne die Zwänge der Ausbildung geriet er in einen Kreis der Selbstbeschränkung. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entwickelten sich die freigeistigsten, begabtesten und selbstbewusstesten Künstler trotz ihrer stilistischen Unterschiede in eine gemeinsame Richtung. Ihr Motto lässt sich so formulieren: „Lasst uns von der Weltkunst das nehmen, was uns hilft, die nationale bulgarische Kunst zu entwickeln“. Im Mittelpunkt stand für sie der Begriff der „organischen“ Entwicklung: Erfindungen wie der Abstraktionismus oder der künstlerische Kosmopolitismus wurden als „nicht organisch“ und damit als nicht hilfreich betrachtet. Der Begriff „organisch“ impliziert Evolution, nicht Revolution. Eine Folge davon war, dass die Künstler selbst eine Entwicklung bremsten, die ohnehin nur langsam vorankam, weil sie zu spät einsetzte. Aber für diese talentierten Leute schien es das Richtige zu sein (und zu diesem historischen Zeitpunkt mag es auch der richtige Kompromiss gewesen sein – wenn man ihre Leistungen mit den Auswirkungen der uneingeschränkten Freiheit vergleicht, die den bulgarischen Künstlern nach der Wende von 1989 von den Politikern beschert wurde). Die meisten von ihnen beeilten sich, die Welt „einzuholen“, wobei es ihnen nur um ihre persönliche Positionierung in ihr ging; doch mit einigen brillanten Ausnahmen gelang es ihnen höchstens, nicht die Kunst der Welt, sondern nur die Mode in ihr einzuholen, wobei sie zu mittelmäßigen Produzenten von Papageienkunst wurden. Überstürzte Veränderungen haben eben ihren Preis – manchmal einen zu hohen.

Vormals schloss sich Ivanov diesem Ruf nach patriotischer Evolution an und begann, seine realistischen Landschaften und Porträts zu malen, und das sehr gut. Seine einfachen Landschaften zum Beispiel sind präzise komponiert und weisen eine charakteristische kontemplative Ruhe auf, an der wir seine Hand auch in einem unsignierten Werk erkennen können. Doch in diesem allgemeinen Realismus war Ivanov nur einer von vielen. Und seine Kunst erlaubte es ihm, zu überleben – wenn auch nur am Rande der Existenz.

Von den äußeren Faktoren waren wohl der Zweite Weltkrieg und die darauf folgende Diktatur der Auslöser für den Beginn der Veränderung: der Schock der unvergessenen Menschenopfer vor dem Nichts und das körperliche Empfinden der kommunistischen Zwangsjacke. Realismus? Sollte dieser pompöse und/oder ausgehöhlte Realismus die nächste „organische“ Etappe in der Entwicklung der bulgarischen Kunst darstellen? Absurd. In einer solchen Situation geht ein prinzipientreuer Künstler in den Widerstand. Aber im Falle Ivanovs verlief die Entwicklung wie in Zeitlupe: Um den Nicht-Realismus seiner künstlerischen Entdeckungen zu erreichen, brauchte er mehr als zehn Jahre.

Währenddessen förderten die Machthaber den traditionellen Realismus seiner Werke und warfen ihm das Fehlen einer sozialistischen Mobilisierung in ihnen vor.  Oh, wenn diese kleinen Diktatoren des Lebens und der Kunst dich für etwas loben – dann musst du damit Schluss machen. Schluss mit dem eigenen, bisher so unbeschwerten Realismus! Und Schluss mit dem Evolutionismus – in der Kunst forderte man Revolutionäres! Und so begann Vasil Ivanov eine neue Suche nach seinem künstlerischen Ausdruck, aber er hielt sie „hinter den Kulissen“ – bis die Entdeckungen begannen. Er löste seine Phantasie von seinen bisherigen Träumen – und vom bukolischen Land fand er sich inmitten des Kosmos wieder, nicht mehr und nicht weniger! Dies war der Beginn seines zukünftigen Kosmischen Zyklus, der ihn als Künstler und Entdecker bekannt machte. Das war auch der Grund, warum die amerikanische Enzyklopädie Arts einen Artikel über ihn als den Schöpfer der kosmischen Grafik veröffentlichte. Die Ausstellung von 1964 war sein erster Versuch, seine neue Kunst der Öffentlichkeit zu präsentieren.

 

Der selbsterschaffene Mensch

Einen Menschen als “selbsterschaffen” zu bezeichnen, ist im Allgemeinen lediglich die Bekanntgabe einer biographischen Tatsache; wenn dieser Mensch es aber unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur geschafft hat, sich selbst zu erschaffen, ist es nicht nur die Bekanntgabe einer Tatsache, sondern auch eine Auszeichnung. Vielleicht kann nur jemand, der „den Sozialismus gelebt“ hat, auch in den Knochen fühlen, wie schwierig es ist, unabhängig zu leben, und wie gefährlich, es zu zeigen. Ich bin mir nicht sicher, was in einer Existenz unter totalitären Bedingungen einen höheren kulturellen Wert hat – die Erschaffung einer neuen Kunstform oder das autonome Leben. Vasil Ivanov tat beides.

Er wäre in jeder Gesellschaft fremd gewesen, aber unter den „realen Sozialismus“ bedeutete Fremdheit „Individualität“, und das war politisch suspekt. Denn offiziell wurde ein allgegenwärtiger „Kollektivismus“ propagiert, der in der Praxis als universelle Konformität realisiert wurde. Nonkonformisten waren nicht normal, sowohl statistisch als auch moralisch…

Aber – sieh sich mal einer diesen an! Ein Maler sei er, aber Malen sei Musik, also male er ein Bild in der Zeit, die er braucht, um ein Geigenstück zu spielen. (Er ist ein guter Geiger, ursprünglich wollte er Profi werden.) Seine Frau – eine Ballerina aus der Hauptstadt, angeblich lieben sie sich, aber er hat sich allein in einer verfallenen Hütte im Wald eingepfercht, bei den Danovisten! Und dieses Yoga! (Er praktizierte ständig Yoga und wurde so gut, dass er für die Illustrationen des ersten bulgarischen Handbuchs über Yoga-Gymnastik fotografiert wurde. Es sei hier angemerkt, dass von der allumfassenden Spiritualität des Yogismus in Bulgarien damals nur das Oberflächlichste herausgezogen wurde: körperliche Übungen als Pflege der Gesundheit des Körpers. Für Ivanov hingegen war es eine tiefe spirituelle Erfahrung. Im damaligen Bulgarien, das im abgeschlossenen sozialistischen Lager eingesperrt war, war Yoga eine so fremde Sache, dass „Wohlwollende“ diese Fremdartigkeit auf ein „bekanntes Übel“ reduzierten und ihn beschuldigten, unter der Maske des Yoga religiöse Propaganda zu betreiben! Obendrein wurde sein Ruf als Chiromant verbreitet, und seine Angehörigen sprachen von Fällen von Hellseherei. Gut, dass die Stalinzeit vorbei war: Das bulgarische Regime kaufte jetzt lieber Künstler, als sie zu beseitigen. Aber sie müssen sich auch gedacht haben, dass es keinen Sinn hat, den selbst marginalisierten Vasil Ivanov zu bestechen.

Das schließt nicht aus, dass sich auch für ihn Leute finden, die in Bulgarien die wichtige soziale Rolle „Neider“ spielen: „Schaut euch mal den an, er lebt, wie er will und kommt damit durch!“  Außerdem will dieser innere Emigrant, dass seine Kunst das Licht der Welt erblickt – und irgendwie gelingt es ihm.

Denn nachdem er sich von der Macht und der Gesellschaft absetzte, gewann er Persönlichkeiten, die seine treuen Freunde wurden.

Es waren eben Freunde aus dem In- und Ausland, die ihm halfen, auch im Ausland auszustellen, zum Beispiel im sozialistischen Warschau, aber auch im kapitalistischen London – und das mit schmeichelhaften Kritiken. Typisch ist jedoch der Fall seiner Ausstellung in Ost-Berlin. Deutsche Freunde arrangierten sie für ihn, und andere deutsche Freunde sorgten dafür, dass die Ausstellung die Mauer überquerte und auch in West-Berlin gezeigt wurde. Das offizielle Bulgarien versuchte, dies zu verhindern, scheiterte aber und verweigerte ihm daraufhin die Erlaubnis, zur Eröffnung der Ausstellung auszureisen. Stattdessen schickte man einen Stasimann mit Diplomatenpass, der log, der Künstler liege krank im Bett und entschuldige sich vielmals…

Und dann endlich reiste Vasil Ivanov, schon in die Jahre (62) gekommen, in die freie Welt – in das schon anfangs erwähnte Paris. Dies geschah dank des großartigen Pianisten Yuri Bukov, einem in Frankreich eingebürgerten Bulgaren, mit dem sich das Regime gern schmücken wollte – also ließ es Ivanov gehen und auf seine Kosten leben. Ivanov hatte Ausstellungen in mehreren Galerien, und es wurden mehrere seiner Gemälde gekauft. Doch der große Durchbruch blieb aus – ich hoffe, es ist jetzt klar, warum. In einem Brief an seine Frau trauerte er um sein Leben im Wald: die urbanen Räume erstickten ihn. Er wurde krank, die Krankheit verschlimmerte sich schnell, er wurde zurück nach Bulgarien geschickt – und innerhalb weniger Monate starb er.

Wiederum in einem Brief aus dem Ausland fragte Vasil Ivanov seine Frau rhetorisch: „Aber was ist eigentlich Erfolg?“ Denken wir nach und zählen wir auf: Vasil Ivanov ist der einzige bulgarische Künstler, der völlig unabhängig einen neuen künstlerischen Raum geschaffen hat – seine kosmische Welt. Er gehört auch zu den wenigen bulgarischen Künstlern, die ihr Recht auf Freiheit in der Kunst und ihr Verständnis von Moral erfolgreich verteidigt haben. Sein ganzes Leben lang hat er nur das getan, was er für richtig und ehrenhaft gehalten hat: Er hat für seine Seele gearbeitet und seine Seele auch für sich arbeiten lassen.

 

Dafür schulden wir alle Vasil Ivanov Respekt, mit einer kleinen Beimischung von edlem Neid.

Hut ab!

(Ein archaischer Ausruf, da das Hutabnehmen als städtische Gepflogenheit verschwunden ist; außerdem hat es einen Hauch von Sexismus. Vielleicht ein Appell, die Smartphones kurzzeitig auszuschalten?)

1. Kalin Nikolov hat diese Briefe vollständig veröffentlicht, sie sind auch in seinem hier vorgestellten Material enthalten, und wir alle schulden ihm Dank dafür.
2. Wenn wir dies weiter ausführen, müssten wir die Frage im sowjetischen Kontext wiederholen: Warum bestanden die sowjetischen Kommunisten auf Realismus, und die Antwort wäre ähnlich – wegen der Ähnlichkeit der Systeme und Gesellschaften.
3. Das ist auch der Grund, warum die amerikanische Enzyklopädie Arts einen Artikel über ihn aufgenommen und ihn als Schöpfer der Cosmic Graphics bezeichnet hat.
4. Es sei darauf hingewiesen, dass aus der allumfassenden Spiritualität des Yoga in unserem Land zu dieser Zeit nur das Oberflächlichste übernommen wurde – die körperlichen Übungen als Sorge um die Gesundheit –, während es für Ivanoff ein tiefgreifendes spirituelles Erlebnis war.

 

Himmlische Visionen

Der KOSMISCHE ZYKLUS taucht den Betrachter in kosmische Landschaften, Himmelskörper und das große Unbekannte ein. Das monochrome Medium verstärkt das Gefühl von Tiefe und Unendlichkeit und weckt eine tiefe Verbindung zum Universum. Eine Reise durch den Weltraum und darüber hinaus – festgehalten in eindrucksvollen Kontrasten aus weißer Kreide auf schwarzem Papier.

Max-Pol Fouchet

AUSSTELLUNG "HOMMAGE AN WASSIL IVANOFF"

„Die Werke von Vasil Ivanov sind unbestreitbar Kunst, und die Kunstfertigkeit der Hand, von der sie zeugen, die Virtuosität selbst, mit der der Künstler diese weißen oder farbigen Figuren auf den schwarzen Hintergrund geworfen hat, die Sicherheit der Zeichnung und der Einsicht, lassen keinen Grund daran zu zweifeln. Und doch ist diese Kunstfertigkeit nur ein Mittel im Dienste einer Poetik, eines Gedankens, einer Vision, die über die bloße ästhetische Leistung hinausgeht und eine Tiefe offenbart, die ihresgleichen sucht und einzigartig ist.“

Prof. Dr. Ch. Popov

VON NATURBEOBACHTUNGEN BIS ZUR KOSMISCHEN VISIONARITÄT

„Übrigens wurde die erste Ausstellung mit Werken aus diesem Zyklus Mitte der 1960er Jahre in Sofia eröffnet. Interessanterweise bezeichnete ihn die New Yorker Enzyklopädie der schönen Künste kurz darauf als den Vorläufer einer neuen Kunstrichtung, die damals „Kosmische Grafik“ genannt wurde. Gerade und vor allem mit diesen Zeichnungen bleibt Wassil Iwanow weitgehend abseits der wichtigsten Tendenzen und Stilrichtungen der bulgarischen Kunst des 20. Jahrhunderts.“
Kalin Nikolov
MIT DER ZEIT DER ECHTEN KUNST
„Außerhalb oder innerhalb der Zeit der Kunst! Er hielt Schritt mit der Suche nach aktuellen Tendenzen, verfolgte einen tiefgründigen und riskanten Weg in seinem Schaffen, wurde zum ersten bulgarischen Abstraktionisten, zeichnete sich durch eine völlig individuelle Philosophie und Arbeitsweise aus.“
Deyan Kiuranov, PhD
DER SELBSTERSCHAFFENE
„Im Jahr 1971 reiste der bildende Künstler Wassil Ivanoff aus seiner Heimatstadt Sofia nach Paris. Für einen Künstler aus der damaligen Volksrepublik Bulgarien war Paris nicht nur ein Ort der Begegnung mit der Weltkunst, sondern auch Teil des Westens, wo Kunst sowohl ästhetisch als auch kommerziell anders bewertet wurde. Aus marktwirtschaftlicher Sicht war Ivanoffs Aufenthalt kein Erfolg.“

„...Wir erkennen, dass wir uns in der Gegenwart
eines jener Schöpfer befinden, die,
mit Recht, Hüter des Lichts sind...“

Max-Pol Fouchet

Neben dem emblematischen „KOSMOS“-Zyklus umfasst die Anastasov-Sammlung über 600 Werke, darunter wenig bekannte Porträts, Landschaften, Stillleben, Aktzeichnungen und abstrakte Motive.

Elementare Striche

Die rohe Kraft von Öl und ihre zeitlose Ausdruckskraft auf Leinwand und Karton entdecken.

Landschaften in Bewegung

Von ruhigen Naturszenen bis zu dynamischen Abstraktionen – wo Form, Raum und Bewegung verschmelzen.

Formen im Wandel

Aktstudien und Porträts zwischen Abstraktion und Realismus – das Wesen unter der Oberfläche einfangend.

Tinte und Alchemie

Minimalistisch, aber kraftvoll – diese seltenen Tinten- und Mixed-Media-Werke zeigen das Wesen von Linie und Kontrast.

Echos von Licht und Farbe

Kreidekompositionen zwischen Sanftheit und Leuchtkraft, wo das Kosmische das Irdische berührt.